U. Campell: Das alpine Rätien. Topographische Beschreibung von 1573

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Titel
Das alpine Rätien. Das alpine Rätien. Topographische Beschreibung von 1573


Autor(en)
Campell, Ulrich
Erschienen
Zürich 2021: Chronos Verlag
von
Jan-Andrea Bernhard

Sie darf als ein Jahrhundertwerk gewertet werden, die zweisprachige historisch-kritische Edition der Rætiæ Alpestris topographica descriptio von Durich Chiampell (Ulrich Campell, 1510–1582), verfasst zwischen 1570 und 1573. 1849 erschien erstmals ein deutscher Auszug, herausgegeben vom Altmeister der Editionen bündnerischer Chroniken, Conradin von Mohr. Es ist ein sehr grosses Verdienst des Instituts für Kulturforschung Graubünden, insbesondere aber des Editors Dr. Florian Hitz, trotz vieler Widerwärtigkeiten das grosse Unterfangen zu Ende geführt zu haben.

Das Werk präsentiert sich in drei Bänden: Band 1 umfasst die Einleitung sowie den ersten Teil der Edition, Band 2 den zweiten Teil und Band 3 die Erläuterungen, die Bibliographie und das Register. Nachfolgend sollen einige wesentliche Aspekte inhaltlicher Art vorgestellt und abschliessend die Edition kritisch gewürdigt werden.

Ende der 1570er Jahre wandte sich Ludwig Lavater (1527–1586) mit der Bitte an Johannes Pontisella III. (1552–1622), eine Bearbeitung bzw. Ergänzung der Geschichte Bündens zu verfassen.1 Offenbar begehrte Lavater, dass Campell, der Verfasser der Topographica descriptio (1570–1573) und der Historia Raetica (1573–1576) – ein Auftrag Josias Simlers (†1576), im Rahmen einer gesamteuropäischen historischen Landestopographie auch die Drei Bünde zu behandeln –, sein bisheriges Werk noch einmal überarbeite, weil manches nicht humanistischer Manier entspreche. Weil Campell dies offenbar nicht wollte, wandte sich Lavater an Pontisella. Diese kleine Begebenheit illustriert glänzend die Tatsache, dass Simler mit Campells Werk nicht wirklich zufrieden war. Was waren die Hintergründe?

In der Einleitung stellt der Editor Hitz en détail die Entstehungsgeschichte vor, mit vielen wichtigen Hinweisen, was Simler kritisierte, aber auch, wie Campell seine Topographie auf Wunsch Simlers mehrfach angepasst hatte (S. E 28–E 29). Nach dem Tode Simlers kam das Projekt zudem ins Stocken – weder der Plan von 1582, das Werk «cum privilegio» der Drei Bünde drucken zu lassen, noch die Bemühungen Lavaters waren von Erfolg gekrönt, so dass das Werk bis ins 19. Jahrhundert unveröffentlicht blieb.

In der Einleitung stellt der Editor die Biographie Campells, den Auftrag Simlers und die bereits vorliegenden Quellenlage konzis vor (S. E 11–E 27). Der zweite Teil der Einleitung schildert das Vorgehen Campells bei seiner Materialsuche für die Topographie. Dabei ist es wichtig festzuhalten – gerade auch im Blick auf die Edition von Christian Immanuel Kind (Basel 1884) –, dass der dritte und vierte Anhang (Kap. 50–57, hg. Von Traugott Schiess, Chur 1900) im ursprünglichen Konzept des Werks nicht vorgesehen waren (S. E 31). In der Folge stellt Hitz das Original der Handschrift Campells, heute in der Bibliothek des Generalstabchefs Theophil Sprecher v. Bernegg (1850–1927) in Maienfeld (Brüggerhaus) aufbewahrt (S. E 49 f.), und alle Abschriften bis ins 19. Jahrhundert vor, darunter auch die wertvolle Abschrift des Junkers Georg v. Perini aus dem Jahre 1706 (S. E 53, E 60). Nach den Ausführungen zu den Editionsrichtlinien und den Übersetzungsgrundsätzen schliesst die Einleitung mit der Bibliographie (S. E 75–E 85).

Die Topographie an sich ist aufgebaut gemäss den Drei Bünden – Oberer Bund (Kap. 3–7), Gotteshausbund (Kap. 8–35) und Zehngerichtebund (Kap. 36–42) –, wobei der Gotteshausbund, insbesondere aber das Unterengadin und seine Heimatgemeinde Susch (Süs), weit ausführlicher und detaillierter vorgestellt wird, was sich auch darin zeigt, dass Campell ein separates Kapitel zur Engadiner Mentalität verfasst (Kap. 30). Innerhalb dieser drei Hauptthemen liegen zudem einzelne Kapitel zu verschiedenen Bereichen vor, unter anderem ein Passus zu den konfessionellen und den Sprachverhältnissen im Oberen Bund (Kap. 7) oder zum Tiroler Gericht Nauders (Kap. 29). Im Anschluss an die Drei Bünde folgen schliesslich die vier Anhänge: Der erste Anhang behandelt – im Sinne der Raetia secunda – das Rheintal von Ragaz über Sargans bis zum Bodensee, das Gasterland und das Obertoggenburg (Kap. 43–47), der zweite die Untertanengebiete Valchiavenna und Veltlin (Kap. 48–49), der dritte behandelt die Naturkunde in den rätischen Alpen, also Flüsse, Gletscher und Schnee, Gestein, Wurzeln, Sträucher und Kräuter, Tiere aller Art, von Raubtieren bis hin zu Vögeln (Kap. 50–56). Der vierte Anhang stellt die menschlichen Bewohner Rätiens vor (Kap. 57). Der Aufbau der Anhänge drei und vier orientiert sich ohne Zweifel an der Schöpfungsgeschichte (Genesis 1), nimmt aber, neben dem gesammelten Wissen Campells, auch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse des 16. Jahrhunderts auf.

Es liegt in der Natur der Sache, dass im Rahmen dieser Rezension die Fülle und all die inhaltlichen Rosinen der Topographie nicht eingehend vorgestellt werden können. Dennoch ist in diesem Zusammenhang auf den dritten Anhang hinzuweisen, da darin etwelche Hinweise zur Fauna und Flora Bündens vorliegen, über die wir heute ansonsten keine Kenntnisse mehr hätten. Interessant ist auch, dass Campell immer die lateinischen, die romanischen – er nennt es «rätisch» – und die deutschen Namen nebeneinander nennt, zum Beispiel die Singvögel merulae (merls, Amsel), lusciniae (lussingoelas, Nachtgallen), alaudae (ludinellas, Lerchen), fringillae (franguells, Finken) und andere (S. 914–917).

Im dritten Band der Edition finden sich schliesslich die Anmerkungen und Erläuterungen des Editors Florian Hitz. Ein wahrer Schatz an Informationen! Darin erläutert der Editor den Text Campells grundsätzlich immer aus zwei verschiedenen Sichtweisen, einerseits vergleichend-komparativ aus zeitgenössischen Quellen, andererseits verweisend auf den derzeitigen Forschungs- und Wissensstand der betreffenden Thematik; gerade für familien- und personengeschichtliche Studien sind diese Erläuterungen von besonderer Güte, erschlossen durch ein sehr nützliches Orts-, Personen- und Sachregister (S. 253–281). Regelmässig werden in den Erläuterungen auch Querverweise innerhalb der Topographie gemacht.

Das umfangreiche Werk schliesst mit einer umfassenden Bibliographie zu den Erläuterungen, aufgeteilt in ein Abkürzungsverzeichnis, Quellenverzeichnis, moderne Darstellungen, Handbücher und Online-Quellen (S. 231–252).

Es ist nicht nur bewundernswert, wie Florian Hitz jedem Detail der Topographia Campells nachgegangen ist und die derzeit bekannte wissenschaftliche Literatur anführt, sondern es ist auch aus editorischer Sicht eine einzigartige Mammutsleistung, die Kind’-sche lateinische Ausgabe von 1884 in allen Einzelheiten zu prüfen, die vielen Korrekturen und Ergänzungen aus dem handschriftlichen Manuskript Campells in einem kritischen Apparat anzuführen sowie die Originalpaginierung einzufügen, damit der geneigte Forscher sich auch im Originalmanuskript Campells orientieren kann. Hitz hat es auch nicht gescheut, abgesehen von den bereits auf dem Titelblatt genannten acht Personen, weitere Fachpersonen bei Spezialthemen beizuziehen, zum Beispiel bei Fragen zu griechischen oder rätoromanischen Ausdrücken Campells. Die Editionsrichtlinien sind transparent dargelegt. Da und dort hätte man sich freilich für ein anderes Vorgehen entscheiden können. Die Übersetzung hingegen ist eine Meisterleistung, unabhängig davon, ob sie sich auf ältere Vorlagen stützt oder aufs Neue geleistet wurde. Pflegt Campell doch des Öfteren einen ciceronianischen Stil, den man unmöglich eins zu eins übersetzen kann, wenn der Inhalt lesbar sein soll. Und es ist tatsächlich ein Genuss, die deutsche Version der Topographica descriptio zu lesen und so an der lebendigen Darstellung Campells von Land und Leuten, Wirtschaft und Gesellschaft, Politik und Kultur der Drei Bünde im 16. Jahrhundert teilzuhaben.

Anmerkung:
1 Vgl. [Ludwig Lavater] an Johannes Pontisella, o.D. [1578/79], in: Petrus Dominicus Rosius à Porta, Historia Reformationis Ecclesiarum Raeticarum […], Bd. I/1, Chur 1771, f. b2r–c2r (= Schiess, Bullingers Korrespondenz III, Nr. 457).

Zitierweise:
Bernhard, Jan-Andrea: Rezension zu: Campell, Ulrich: Das alpine Rätien. Topographische Beschreibung von 1573, 3 Bde., Zürich 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 372-374. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134>.

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